Augsburg ist Literaturstadt. Naja – wenn wir die neue Stadtbücherei endlich haben, erst Recht… Das sich aber neben der zweitgrößten Brecht-Bibliothek der Welt sich in Augsburg auch die einzige Spezialbibliothek zum Thema Selbstmord befindet, war jedoch bislang nicht der breiten Öffentlichkeit bekannt. Eine Besonderheit zeichnet die Sammlung, die ihren Sitz in der Staatsbibliothek Augsburg hat, aus: nicht nur Fachliteratur sondern auch literarische Bearbeitungen wurden in ihr aufgenommen.
Zum Beispiel reihen sich auch eine der ersten Ausgaben von Goethes “Werther“, Albert Ehrensteins “Selbstmord eines Katers“, aber auch Sekundärlieratur z.B. über die Suizide in den Werken Shakespeares und Biografien über Kleist in diese Sammlung ein. Darunter finden sich auch viele skurrile Titel, z.B. “Luthers Selbstmord“ oder Heinrich August Müllers 1798 erschienene Schrift “Selbstmord und Raserei. Die Folgen der zärtlichen Liebe“. Von wunderschön bebilderten Schriften aus dem 17. Jahrhundert bis hin zu modernen Werken – in der Selbstmordbibliothek versucht man die Vollständigkeit. Diese in ihrem Umfang einzigartige Spezialbibliothek suizidologischer Werke ist inzwischen bereits von mehreren Generationen von Suizidforschern als unentbehrliches Fundament ihrer wissenschaftlichen Studien in Anspruch genommen worden.
Ermöglicht wurde diese morbide anmutendende Spezialsammlung von dem Augsburger Hans Rost (geboren 25. Juni 1877 in Bamberg; gestorben 18. April 1970 in Augsburg) – dessen Interessen Suizidprävention, Karl May und neben anderem besonders der Katholizismus war.
Selbstmord ist die in Deutschland zweithäufigste Todesursache für Jugendliche. 1995 alleine wählten 120 Personen im Schutzbereich der Polizei Augsburgs freiwillig den Tod, Hauptmotive: Schwermut, Krankheit und Nervenleiden (78 Fälle) aber auch familiäre Probleme (9 Fälle) und wirtschaftliche Not (6 Fälle); meistens Menschen über 60 Jahre. Dieser hohen Zahl stehen 50 Verkehrstote im gleichen Jahr entgegen.
Nicht nur die Selbstmordbibliothek befindet sich in Augsburg. Zufälligerweise liegt der Hauptsitz der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) – die vor einigen Jahren traurige Schlagzeilen mit ihrem damaligen Zyankali-dealenden Vorsitzenden Hans Henning Atrott machte. Die DGHS sieht ihre Aufgabe aber nicht nur in der Beratung von Menschen, die den selbstgesetzten Tod wählen, sondern eigentlich und schwerpunktmäßig im Patientenschutz, also wie man sich schützen kann, damit im Falle einer schweren Krankheit oder eines Unfalls qualvolle und sterbensverlängernde Maßnahmen unterlassen bleiben. Auch die DGHS bekräftigt das Motto des Begründers der Selbstmordbibliothek Hans Rost: “Wir müssen den Mut und die Kraft aufbringen, auch auf dem Wege der persönlichen Nächstenhilfe hier zu retten, was zu retten ist. Die vertrauensvolle Aussprache von Mensch zu Mensch ist der erfolgreichste Weg“ (zitiert aus “Erinnerungen“).
Vor 120 Jahren am 25. Juni 1877, wurde Dr. Hans Rost in Bamberg geboren. Über Jahrzehnte war er Redakteur der erzkatholischen “Augsburger Postzeitung“. Sein 1927 verlegtes 400-Seiten-Mammutwerk “Bibliographie des Selbstmords“ gilt immer noch als das Standardwerk zu diesem Thema. Bereits seine erste Publikation nach der Promotion befaßte sich mit dem Suizid: “Der Selbstmord in seinen Beziehungen zu Confession und Stadtbevölkerung im Königreich Bayern“ (1902). Diese Untersuchung war die erste einer langen Reihe von Arbeiten Hans Rosts, die sich mit dem Phänomen des Selbstmord auseinandersetzen und diese Problematik stets auch aus der Sicht eines engagierten Katholiken betrachten. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stand jedoch nicht das morbide Interesse am Tod sondern die Selbstmordprävention: “Da die Selbsttötung eines Menschen eine seelische-religiöse Angelegenheit ist, so muß die Verringerung der Selbstmordhäufigkeit […] auch mit Mitteln aus dem Bereich der Religion herbeigeführt werden.“
Seinem Urteil: “Bei dieser Gelegenheit darf auch der große falsche Irrtum der materialistischen Lebensphilosophie zurückgewiesen werden, daß die materielle Not und leibliches Elend Hauptveranlassung für die Selbsttötung seien“ (“Erinnerungen aus dem Leben eines beinahe glücklichen Menschen“, 1962) kann man aufgrund der vorliegenden Fakten auch heute noch so formulieren. Trotzdem: gerade die Anzahl von Selbstmorden in Ostdeutschland steigt parallel zu der dortigen steigenden Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit.
Ab 1910 begann Hans Rost eine eigene “Selbstmordbibliothek“ zusammenzustellen. 1928 erwarb die Staatsbibliothek Augsburg die Sammlung, die diese konsequent weiterführte bis zu einem Bestand von mittlerweile rund 2000 Büchern. Auch konnte der Nachlaß Rosts, der schon nach Bamberg versprochen war, von Bibliotheksleiter Dr. Helmut Gier gesichert werden.
Rost interessierte sich jedoch nicht nur für sein Spezialthema Suizid. Seine Tätigkeit als Redakteur der “Augsburger Postzeitung“ ermöglichte ihm die Bekanntschaft mit dem Autor Karl May, den er abgöttisch verehrte. In seinen 1962 erschienen Lebenserinnerungen betont Rost, das dessen Bedeutung besonders in dessen “einwandfreie[n], von jeder Erotik und Unsittlichkeit sich fernhaltenden Jugendlektüre“ liege. Als Dankeschön für die positiven Rezensionen in der “Augsburger Postzeitung“ ermöglichte der damals stark umstrittene Romancier den Erstabdruck von “Winnetou IV“ in dessen Beilage “Lueginsland“.
Seine christliche Grundüberzeugung war allein dem Katholizismus vorbehalten (“das Papsttum [ist] die größte Friedens- und Ordnungsmacht auf Erden“) und bewahrte ihn nicht vor Ausbrüchen gegen die andere christliche Konfession (“Der Protestantismus und die Kultur“ und “Der Protestantismus als Prinzip des Individualismus“, beide 1930) und besonders gegen das Judentum, das er mit einer “Riesenkreuzspinne“ verglich. In “Gedanken und Wahrheiten zur Judenfrage“ von 1907 finden sich Sätze wie “Nicht schimpfen auf das jüdische Übergewicht und nicht verzweifeln, sondern auf Gott vertrauen und um sich hauen“.
Kompromißlos setzte er sich jedoch ab 1932 gegen die drohende Gefahr des Nationalsozialismus zur Wehr. Aufgrund Rosts Broschüre “Christus – nicht Hitler“ (mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren!) wurde Rost nach der “Machtübernahme“ Hitlers vier Wochen in Schutzhaft genommen und auch später noch öfters von der Gestapo verhört. 1934 wurde er genötigt, die “Augsburger Postzeitung“ zu verlassen, die 1935 endgültig ihr Erscheinen einstellen mußte; sie hatte sich schon im Jahr 1932 mit beinahe 2000 Artikeln und Berichten kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt.
Dr. Hans Rost verstarb am 19. April 1970 in Westheim.
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