Schon Walther von der Vogelweide hat es getan. Und höchstwahrscheinlich auch die Urzeitmenschen in ihren verrauchten Höhlen! Sie saßen im Kreis und haben sich ihre Lieder vorgegrunzt, später gesungen und dann irgendwann auch einfach nur noch hochmelodiös und rhythmisiert gereimt. Und ein begeistertes Publikum hat zustimmend gebrüllt, gejubelt oder einfach nur geklatscht …
Und irgendwann, irgendwann hat irgendjemand angefangen zu behaupten, dass hohe Literatur nicht Spaß machen, dass man sich nicht emotional dazu äußern dürfe. Dass die beste Form der Teilhabe an künstlerischen Leistungen anderer eine verkrampfte Körperhaltung erfordere und sich maximal so viel Freude im Gesichtsausdruck des Kulturgenießers widerspiegeln müsse wie bei einer Hämorrhoidenverödung an einem verregneten Montagvormittag.
Einzig in der so genannten Popkultur ist es heute noch gestattet, Kultur als Freude zu genießen. Und so verwundert es nicht, dass man auch heute noch in verräucherte Höhlen, also in Clubs und Kabarettbars, zu einem Poetry Slam gehen muss, um aktuelle, um mitreißende, ja auch um unterhaltsame Literatur erleben zu können. Wie so viele gute Dinge, die uns heute unterhalten und bewegen, ist auch diese Form der Literaturvermittlung aus Amerika zu uns gekommen.
Der Poetry Slam ist eine aus den Vereinigten Staaten stammende Variante eines öffentlichen Literaturwettbewerbs. Die Jury rekrutiert sich dabei aus dem Publikum. Die Grundregeln: Man darf nur eigene Texte und diese auch nur in einer begrenzten Zeit vorlesen – meistens haben die Autoren nicht mehr als zehn Minuten für ihren Vortrag.
Literarisches Kunstspringen nach olympischen Regeln
Poetry Slam entstand vor knapp 20 Jahren in den USA. Zwei parallele Geburtsorte dieser “Liveliteratur” (auch “Spoken Word” genannt) lassen sich ausmachen. Der eine – und auch legendärere der beiden – ist der Chicagoer “Green Mill Jazz-Club” (ehemals Al Capones Lieblingsladen!), in dem 1986 der ehemalige Bauarbeiter und äußerst charismatische Performancepoet Marc Kelly Smith mit seinem “Chicago Poetry Ensemble” eine Poetryshow etablierte, deren fester Bestandteil ein Dichterwettstreit war. Dieser Wettkampf hieß “The Uptown Poetry Slam” und führte somit zugleich die immer noch gültige Genrebezeichnung ein.
Marc Smith
Der andere Geburtsort von Poetry Slam ist das “Nuyorican Poets Cafe” in New York, anfangs ein Auftrittsort für puertoricanische Dichter, in den späten 70ern auch für Beatliteraten wie William S. Burroughs und Allen Ginsberg. 1990 eröffnet der New Yorker Poetryaktivist Bob Holman das Ende der 80er-Jahre von der Schließung bedrohte Café in einem anderen Club neu, nun mit dem Schwerpunkt auf Poetry Slam.
Bob Holman in seiner kurzen Geschichte des Slams in Amerika: “Die Slams, eine echte Grassroots-Bewegung, wurden in Chicago von dem ehemaligen Bauarbeiter Marc Smith aus der Taufe gehoben, der zwar Lyrik liebte, aber nicht glauben konnte, wie langweilig die Dichterlesungen waren, die er besuchte. Unbekümmert und in dem Bestreben, dem Publikum wieder Einfluss auf das Geschehen zu verschaffen, machte er das Unmögliche wahr: Bei einem Poetry Slam bewerten Juroren nach dem gleichen System wie beim olympischen Kunstspringen. Eine Null für ein Gedicht, das nie hätte geschrieben werden sollen, eine Zehn für ein Gedicht, das bei allen einen gleichzeitigen Orgasmus auslöst.”
Die Bewegung wuchs und wuchs in Amerika – und fasste natürlich schnell auch Fuß in Europa: Erste Slams fanden schon 1993 in Deutschland, Großbritannien, Finnland und Schweden statt, z.B. veranstaltete der Kölner Krash-Verlag unter dem Motto “Dichter in den Ring” die “1. Deutsche Literaturmeisterschaft”. In Berlin startete im Frühjahr 1994 der erste echte regelmäßige Poetry Slam: Im “Ex’n’Pop” gab es wöchentlich Slams und Open-Mike-Performances unter dem Titel “Night of the Living Words”. Februar 1996 wurde der Münchner Poetry Slam von Ko Bylanzky und Rayl Patzak ins Leben gerufen, der sich bis heute zum wohl größten regelmäßigen Slam Deutschlands mit mehr als 400 Besuchern im Monat entwickelt hat. Ein Jahr später wird der ebenfalls heute noch wichtige “Hamburg ist Slamburg”-Slam von Boris Preckwitz und Tina Uebel gegründet. Augsburg ist mit meinem Lauschangriff seit 1998 mit dabei – kurz nachdem in München der bisher zweite deutsche National Poetry Slam stattgefunden hatte und ich bei diesem Marc Smith kennen lernen konnte, der komplett unproblematisch war, sich vor seinem Auftritt für ein Gespräch Zeit nahm und mich zum Slam ermunterte. Mithilfe von Ko und Rayl, die unermüdlich Autoren aus München ankarrten, war schon wenige Wochen später der erste Slam im Blauen Salon organisiert – schon hier unter dem Titel “Lauschangriff”, schon damals als Wettkampf ausgelegt.
Poetry Party
Keine trockene Angelegenheit …
Bei einem Slam geht es aber eben nicht nur um einen trockenen Wettbewerb – es geht um eine Interaktion zwischen sprühendem Künstler, mitfieberndem Publikum und dem teilweise vermittelnden, teilweise provozierenden Moderator, der den Rahmen für das Event zu geben versucht. Kennzeichnend für Poetry Slams sind eine enorme Stilvielfalt und auch die Bedeutung der Performances. Unter den Texten findet sich sehr viel Lyrik, aber auch Prosa und Drama, das alleine oder auch in Gruppen szenisch vorgetragen wird. “Slam Poetry” steht für Texte, die modernes Leben sehr unmittelbar und mit aktuellen literarischen Verfahren verarbeitet. Alles ist möglich – und genau das macht den Reiz eines Slams aus. Während bei herkömmlichen Lesungen gedimmtes Licht und eher leise Töne zählen, kann man beim Poetry Slam alles erleben: vom Liebesgedicht über Freestyle Rap bis zu urlustiger Prosa. Beim Slam hat alles seine Berechtigung.
“Slam Poetry” bedeutet das Infragestellen des herkömmlichen Literaturbetriebs, angefangen von den normalen Lesungen (beim Slam steht eben auch die Performance im Mittelpunkt), Veröffentlichungen (beim Slam größtenteils ausschließlich direkt verbal oder über CDs und nur selten in niedergeschriebener Form) und Inhalten (hier oftmals situative, für den Abend und die aktuelle Zeit geschriebene Texte ohne Anspruch auf ewige Gültigkeit). Slam ist also in der Grundausrichtung antielitär, antiautoritär und auf jeden Fall antiakademisch. Im Mittelpunkt steht das Event in seiner Einzigartigkeit und ritualisierten Episodenhaftigkeit, worin eine Gemeinschaft interagiert. Wichtig ist der Community-Gedanke. In kaum einer anderen Literaturform hat sich die MTV-Ästhetik so durchgesetzt wie beim Slam: kurze, schnelle Clips, die durch größtmögliche Effekte intensiviert sind. Während eines Slams ist eben nicht nur der Text wichtig: Wer die äußerst attraktive Berlinerin Tracy Splinter in einem silbernen Catsuit auftreten (und womöglich auch den Slam gewinnen) sah, weiß, wovon ich rede. Genauso waren beim Augsburger Slam schon eine 86-jährige Lyrikern, die sexuelle Themen geschickt in ihre Gedichte einflocht, und ein äußerst charmanter 14-Jähriger, der das Publikum begeisterte, erfolgreich.
Die Regeln des Augsburger Slams halten sich an die der international bekannten und allgemein anerkannten – und sind tatsächlich recht simpel: Acht Autorinnen oder Autoren treten bei einem Slam auf. Ausgelost wird jeder Autor unmittelbar vor dem Auftritt – sodass man bis zum Schluss nicht weiß, wen man hören wird. Jeder hat zehn Minuten Zeit, eigene Texte vorzustellen – Hilfsmittel wie Musikinstrumente oder Ähnliches sind nicht erlaubt. Nach jeweils vier Leuten stimmt das komplette Publikum via Applauslautstärke ab, wer der oder die Beste war. Die zwei Finalisten treten dann zum Schluss noch einmal unmittelbar gegeneinander an – und jeder hat nur noch drei Minuten Zeit, sich dem Publikum zu beweisen. Und nur dessen Applaus zählt: Der Slam-Sieger des Monats erhält eine Flasche Champagner und einen Büchergutschein – und das jetzt in Augsburg bereits seit über sechs Jahren.
Erschienen im a-guide Frühling/2005.
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