Auf einem eintägigen Kongress diskutierten gestern die bayerischen Grünen zusammen mit Fachleuten und Gästen die Chancen aber auch Risiken der zunehmenden Digitalisierung unserer Lebenswelt. Auch wenn das Internet für die allermeisten Menschen zu einem ganz normalen Werkzeug geworden ist – es ist keine 20 Jahre alt und hat die Welt schon enorm verändert. Diese Entwicklung schafft jede Menge Chancen: Sie bietet in Echtzeit Zugang zu Wissen und Informationen, sie ermöglicht schnelle Kontakte rund um den Globus ohne zeitliche Verzögerung, sie erleichtert den Abbau von Hierarchien oder ihre Umgehung, weil viele Menschen ohne Umweg und direkt miteinander kommunizieren können. Gleichzeitig steigern sich die Risiken: technische oder soziale Hürden schließen einen Teil der Menschen von der Nutzung aus. Unsere Daten – wem gehören sie eigentlich noch? Und welche Daten wollen wir öffentlich haben – zum Beispiel die von unserem Staat? Die Digitalisierung prägt unsere Gesellschaft und stellt uns viele politische Fragen. Einige sollten an diesem Tag auch diskutiert werden…
Der Kongress wurde nach Grussworten von Dieter Janecek (Landesvorsitzender der bayerischen Grünen) und Claudia Roth (Bundesvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Mitglied des Bundestags) durch zwei Impulsreferate eröffnet.
Demokratie 2.0
Prof. Dr. Christoph Bieber, Inhaber des Lehrstuhls für “Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft” an der Universität Duisburg-Essen, gab einen Ausblick über die Chancen der neuen Medien. Im Mittelpunkt stand bei ihm der enorme gesellschaftliche Wandel, den das Internet mit sich bringt, bei dem die üblichen Publikumsstrukturen sich änern. Er sieht für Parteien und deren Kommunikation mit Bürgern ein Spannungsfeld zwischen den einzelnen Gruppen „Publikum“ versus „Unterstützer“ versus „Mitglieder“. Die Adressaten überlappen zunehmend und ein neues Kommunikationsmanagement wird notwendig werden. Klassische Parteien in Deutschland haben aber nach wie vor Probleme mit dem Internet – anders als im Obama-Wahlkampf sei in Deutschland keine direkte Kommunikation zwischen Politikern und Wählern möglich, so Bieber. Doch auch in Amerika habe sich was geändert: Hier habe sich die Vorfeldorganisation „Organizing for America“ zwischen die einzelnen Unterstützer und der Person Barrack Obama geschoben. In Deutschland ist wohl hier die Piratenpartei am interessantesten, auch wenn sie bisher nur mäßigen Erfolg hat. Die Piraten setzen konsequent auf digitale Demokratie (wie zum Beispiel LiquidFeedback oder Delegated Voting).
Mit WikiLeaks und den ähnlichen Parallel- oder Ablegeprojekten (wie zum Beispiel OpenLeaks, IndoLeaks, BalkanLeaks oder BrusselsLeaks) sieht er Digitalisierungsprozesse am Werk – denn was digital ist, kann kopiert und verteilt werden; natürlich auch Informationen, die nicht für die Allgemeinheit gedacht waren. Die Langzeit- bzw. Tiefenwirkung solcher praktisch überall vorkommbaren Lecks wird eine spannend zu beobachtende Entwicklung in der Gesellschaft sein. Die Ethik, wie wir mit diesen geleakten Informationen umgehen sollen, muss noch entstehen. Der Wert von geleakten Informationen misst sich natürlich auch ökonomisch. Das sieht man unter anderem an den zuletzt bekannt gewordenen Non-disclosure Agreements zwischen WikiLeaks und Medienvertretern in Höhe von 12 Millionen britischen Pfund, aber auch an den vielen Ablegern, die sich in letzter Zeit gebildet haben.
Eine spannende Zeit zum Leben
Das zweite Impulsreferat wurde von Anke Domscheit-Berg, Gründerin und Vorstand des Government 2.0 Netzwerkes Deutschland e.V., gehalten: „Wie der digitale Wandel unsere Welt verändert“. Ausdrücklich wollte sie in ihrem Vortrag nur auf die positiven Punkte eingehen – über Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung unserer Welt könne man ja genug aus anderen Quellen erfahren. Für Domscheit -Berg erfreulich: Das Internet ist weiblich. In einer Studie von Royal Pingdom von bereits2009 kam heraus, dass 84% der Social Media-Seiten mehr weibliche als männliche Nutzer haben: Facebook – 57% Frauenbeteiligung, Twitter – 59%, MySpace – 64%. Das Mitmach-Web würde zunehmend auch kommerziell genutzt. Dell hat mit Ideastorm eine Webseite gelauncht, um Anregungen, Kritik und Ideen für Produkte zu erhalten. Lego Design By Me (2005 als Lego Factory gestartet) bietet Lego-Fans an, online Modelle zu basteln, die dann auch bestellt werden können. So hat Lego quasi einen Teil der Produktentwicklung crowd-gesourct – schon mehr als 70.000 Modelle seien gebaut worden. Bei beiden Beispielen wurden Entwicklungskosten verringert und zusätzliche Umsätze gemacht.
„Datenjournalismus schafft Transparenz“, so Domscheit-Berg. Webpages wie Parlameter von ZDF oder dem Abgeordnetenwatch.de ist Politik einfacher zu verstehen und nachvollziehbarer geworden. Das gälte aber nicht nur für die Bundespolitik. Auch die Lokalpolitik hat neue Chancen, Entscheidungen zu finden, wenn Bürger einbezogen werden können. Die Stadt Essen musste zum Beispiel 381 Millionen Euro einsparen. Auf der Internetplattform essen-kriegt-die-kurve.de diskutierten Bürger direkt Einsparungspotentiale in der Stadt. Das Resultat des Onlinebeteiligungsverfahren war durchwegs positiv: Bis jetzt wurden Vorschläge zur Einsparung von 263 Millionen Euro erarbeitet, so Domscheit-Berg. Die Bürger haben Einfluss genommen und sich in der Mehrheit sogar sehr sozial verhalten. Natürlich ging es hier nicht um eVoting, die Politik blieb in der Verantwortung die Ziele dann auch umzusetzen.
„Eine spannende Zeit zum Leben“, so Domscheit-Berg: Bürger bündeln ihre Kräfte online und können heute sogar Minister stürzen (wie zum Beispiel bei der Plagiatsdokumentation von Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg) aber auch Regierungen (so war Twitter und Facebook durchaus ein elementares Kommunikationstool der Revolutionen im Nahen Osten in diesem Jahr). Korruptionsbekämpfung findet heute auch online statt, wie zum Beispiel in „Investigate your MP’s expenses“, einer Webseite von The Guardian, beider Bürger ähnlich wie im GuttenPlag zusammenarbeiten, um ungerechtfertigte Abrechungen zu identifizieren. „Nichts bleibt mehr geheim! Leaking ist die Option für Menschen mit Gewissen!“ Denn Herrschaftswissen gäbe es zwar noch, aber es ist am Aussterben, so Domscheit-Berg.
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